Faktische Polizeiwillkür: Wie die „hypothetische Neuerhebung“ den Datenschutz zur bitteren Lachnummer macht

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Columne „GetConnected“ der Rote Hilfe Zeitung.

Als der Gesetzgeber 2017 im Rahmen des durch
den Breitscheidplatz-Anschlag ermöglichten legislativen Amoklaufs gegen
die Grundrechte dem BKA großzügig neue Schnüffelbefugnisse schenkte
(vgl. RHZ 4/2017), begrub er fast nebenbei ein Grundprinzip des
Datenschutzes, nämlich die Zweckbindung. Die Zauberformel, mit der
dieser Verfassungsbruch ohne Einspruch aus Karlsruhe möglich war:
„hypothetische Neuerhebung“. Ausgerechnet die Richter_innen am
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatten diese den Gesetzesschreibern
– bei der großen Stahlhelmfraktion im Innenministerium erübrigt sich
das gendern nach wie vor weitgehend – in die Federn diktiert. Wir
haben dieses fast tödliche Attentat gegen den Datenschutz in get
connected in der RHZ 3/2018 bedauert. Inzwischen zeigt sich, dass die
Dinge genau so gekommen sind, wie wir das damals prognostiziert haben.

Zur Einordnung des vom BVerfG soufflierten Grundrechtsabbaus sei
zunächst an zwei Prinzipien des Datenschutzes erinnert, dessen
Grundlagen das liberalere BVerfG von 1983 im Volkszählungsurteil gelegt
hat: Datensparsamkeit und Zweckbindung.

Zunächst sagt die Datensparsamkeit, dass Daten nur erhoben und
verarbeitet werden dürfen, wenn sie zur Erfüllung eines (angemessen
wichtigen) Zwecks erforderlich sind. Nun finden aber Obrigkeiten immer
einen weiteren Zweck, weshalb sie ihren Untertanen auf die Finger
blicken wollen, und so könnten einmal erhobene Daten zunächst wieder und
wieder verwendet werden. Ein ganz klassisches Beispiel, das dem
1983er-BVerfG sicher noch sehr präsent war, waren die Daten zum Modus
der Mietzahlung, die sich als wichtigste Säule der Rasterfahndung nach
RAF-Mitgliedern Anfang der 1970er Jahre erwiesen hatten.

Der Effekt wäre (tja: realistischerweise ist), dass das Speicheropfer
keine Möglichkeit mehr hat zu übersehen, welcher Teil der Obrigkeit
welche Informationen über es hat, in genauem Gegensatz zur Motivation
der im Volkszählungsurteil ausgearbeiteten Datenschutzrechte, die in der
Vorstellung der Richter_innen letztlich Bürger_in und Staat trotz
„Digitalisierung“ (so hieß das damals natürlich noch nicht) halbwegs auf
Augenhöhe halten sollten.

Die Anti-Rasterfahndung

Deshalb ist das Verbot der Umwidmung von Daten, eben die Zweckbindung,
ein so zentraler Bestandteil des Datenschutzes. Etwas formaler
formuliert müssen Verarbeitende erhobene Daten bei Erfüllung des ursprünglichen Zwecks löschen, auch auch davor dürfen sie ihre Daten
nicht für andere Zwecke nutzen.

Ein paar streng definierte Ausnahmen (etwa nach Aggregierung und
Anonymisierung für Wissenschaft und Statistik) gab es schon 1983. Und
ja, auch in der Zwischenzeit haben verschiedene Gesetzgeber immer wieder
mehr oder minder zaghaft an der Zweckbindung geruckelt, ganz besonders
wie üblich für Terrorismus und Volkszählung (vgl. RHZ 2/11). Richtig
schlimm wurde es jedoch erst nach einem Urteil des BVerfG von 2016, in
dem es zwar nennenswerte Teile des BKAG von 2008 für verfassungswidrig
erklärte, aber dem autoritären Block einen Königsweg zur Aushebelung der
Zweckbindung anbot.

Das „Argument“ ging in etwa so: Wir haben inzwischen so viele Computer,
dass es immer was gibt, wofür die Polizei irgendwelche Daten brauchen
könnte („Zweck“). Es wäre für die Untertanen sehr unbequem, wenn die
Polizei Daten wieder neu bei ihnen erheben müsste, wenn sie die Daten
schon hat und sie lediglich zu ungünstigen Zeiten in der blöden
Situation ist, sie löschen zu müssen.

Wäre es nicht für alle Beteiligten besser, wenn wir nur so tun könnten, als würden wir löschen und neu erheben, in Wirklichkeit aber
einfach die eigentlich für einen (gerne auch längeren) Moment
rechtswidrig gespeicherten Daten behalten?

Wäre es natürlich nicht. Also: besser für alle Beteiligten. Für die
Polizei vielleicht schon, weil sie mehr Daten hat. Für die
Speicheropfer jedenfalls nicht, weil sie jede Möglichkeit verlieren,
abzusehen, wo ihre Daten so hinwandern und was die Obrigkeit mit ihnen
anstellt. Dazu treten ein paar ganz neue Möglichkeiten für die
Staatsgewalt, den Untertanen zu demonstrieren, dass Grundrechte
hierzulande etwas sind, das die Obrigkeit bei Wohlverhalten großzügig
gewährt und im Zweifel strafend entziehen kann.

Strafe durch Datenerfassung

Ein sprechendes Beispiel dazu begann im Mai 2022. Damals protestierten
einige Aktivist_innen gegen den fortgesetzten Betrieb der
Urananreicherungsanlage im münsterländischen Gronau – notabene ist das
genau die Sorte von Maschinerie, gegen die die sprichwörtliche
„internationale Staatengemeinschaft“ im Falle des Irans durch
allerlei Blockaden protestiert. Demgegenüber lag nach der eigenartigen
Arithmetik der strafrechtlichen Bekämpfung politischen Engagements die
Gronau-Aktion sogar noch unterhalb der Blockadeschwelle, denn es ging
lediglich ums Anbringen eines Transparents, wenn auch, das sei
eingestanden, an einem Strommast.

Wie leider allzu üblich, griff die Polizei zur Sofortstrafe und nahm
Fingerabdrücke und andere Biometrie von den Aktivist_innen, unterzog
ihre Opfer also der erkennungsdienstlichen (ED-) Behandlung. Das tut sie
in solchen Situationen praktisch durchweg als eine extralegale (weil ohne
Urteil oder zumindest Gerichtsbeschluss) Bestrafung. Zur Wahrung eines
Scheins von Anstand muss sie jedoch einen von zwei rechtmäßigen Gründen
angeben; „Spontanbestrafung“ oder „Rache“ sehen die Gesetze nämlich
nicht vor. Stattdessen kann sie behaupten, die Daten in einem
laufenden Strafverfahren verwenden zu wollen („repressiv“), oder sie
kann versuchen, hinreichend plausibel zu machen, dass die Fingerabdrücke
in künftigen Strafverfahren Tatortspuren zuzuordnen sein werden
(„präventiv“).

Ungeschickterweise entschieden sich die Polizist_innen in Gronau in ihrer
Bestrafungswut fürs laufende Strafverfahren, und das konnte schon
mangels Notwendigkeit – die Personen waren ja bereits identifiziert und
„Täter_innen“ zugeordnet – nicht hinkommen. Nebenbei war offensichtlich
wenigstens keine Straftat auch nur entfernt zur ED-Behandlung
verhältnismäßiger Schwere im Spiel, denn schon die Staatsanwaltschaft
fand die polizeilichen Konstrukte so albern, dass sie die meisten
Verfahren einstellte.

Jetzt began die erste Verletzung der Zweckbindung, denn mit der
Einstellung war das Strafverfahren vorbei. Damit war der Speicherzweck
der Daten, die die Polizei vorgeblich zur Führung des Verfahrens
erhoben hat, erloschen. Allerdings: Dass das BKA, das für die
Landespolizeien die Fingerabdruck-Datenbanken führt, bei ED-Datensätzen
sehr hemdsärmelig von Repression auf Prävention umschaltet, das ist
nichts Neues. Das Amt hat Fingerabdrücke schon immer nur sehr ungern
vor den 10 Jahren gelöscht, die es nach seiner Lesart der Gesetze
„einfach so“ hat. Dafür haben sie auch schon oft von ihrer
Aufsichtsbehörde aufs Dach bekommen – was für eine deutsche Polizei
leider durchaus ziemlich lang verschmerzbar ist.

Formal verantwortlich für die Speicherung bleibt jedoch auch nach so
einer Umwidmung Marke Wiesbaden die Landespolizei, die die Daten erhoben
hat, in diesem Fall also die in NRW. In einer erstaunlichen Odyssee
durch einige Gerichte, die alle Gründe suchten, warum sie unzuständig
seien, gelang es der Betroffenen in diesem Fall aber, die
Widerrechtlichkeit der Gronauer ED-Behandlung feststellen zu lassen. Da
half nicht mal mehr die BKA-Wurstigkeit: die Landespolizei musste die
Fingerabdrücke schließlich nach einem Jahr Kafka-inspirierter
Gerichtsverfahren im Mai (oder Dezember, so ganz genau ist das nicht
nachzuvollziehen) 2023 löschen.

Hütchenspiele zwischen Wiesbaden, Düsseldorf und Kiel

Happy End? Nicht in der modernen BRD. Denn im August 2024
beauskunftete das BKA die ED-Daten noch immer. Als neue Datenbesitzer
hatten die Bundeskriminalämtler_innen inzwischen
Schleswig-Holstein ausgedeutet. Ätschibätschi, hätten sie unter ihre
Auskunft schreiben können.

An dieser Stelle hätte wohl fast jede_r resigniert („Privatsphäre ist eh
von gestern“) oder jedenfalls beschlossen, dass es mit den Grundrechten
im Polizeirechtsstaat nicht mehr weit her ist. Diese Sorte Verzweiflung
angesichts von nur noch hypothetischem Rechtsschutz gegen polizeiliche
Übergriffe ist der Fluch der Datenschieberei des BKA, als rechtskonform
ersonnen auf der Basis der finsteren hypothetischen Neuerhebung.

Im konkreten Fall allerdings besaß die Betroffene genug Sturheit, um
fast unverdrossen in Schleswig-Holstein nach den Speichergründen zu
fragen. Tatsächlich fand sich in der dortigen Auskunft neben ein paar
verweigerten Auskünften die schlichte Notiz, es sei ein „Merkblatt“
einer Bezirkskriminalinspektion aus der Provinz vorhanden samt einer
„dazugehörigen erkennungsdienstlichen Behandlung“. Eingestanden: in der
Fantasie, rein hypothetisch, „gehören” die rechtswidrig in
Nordrhein-Westfalen gewonnenen ED-Daten schon irgendwie zu einem
Merkblatt aus der Tiefebene nördlich von Hamburg. Zumindest als Teil
galloppierenden Grundrechtsabbaus.

Es gab dieses Mal trotzdem sowas wie ein Happy End. Und zwar
haben sich die Zuständigen in NRW nach Intervention der Betroffenen
schließlich (vielleicht!) doch ein wenig geschämt und das Urteil, das
sie zur Löschung der Daten verpflichtet hat, an die Kolleg_innen in
Schleswig-Holstein weitergeleitet. Diese haben beteuert, „ihre“ Daten
„sofort nach Kenntnis des Urteils“ gelöscht zu haben.

Die gute Nachricht dabei ist, dass zumindest in der norddeutschen
Provinz einige Beamt_innen offenbar noch nicht ganz überrissen haben,
wie das mit der hypothetischen Neuerhebung gedacht war, denn an sich
wirkt diese wie eine große Waschmaschine: Selbst wenn die betreffenden
Daten ursprünglich rechtswidrig erhoben worden sind, nach der
hypothetischen Neuerhebung stehen sie rein und legal im Computer.

Mensch möchte lieber nicht wissen, wie eine Welt aussieht, in der auch
die Provinzpolizei verstanden haben wird, welche Panzerung gegen
bürgerrechtliche Ansprüche die hypothetische Neuerhebung wirklich ist.
Können wir den Mist bitte vorher wieder loskriegen?

Kontakt und Artikel-Archiv: https://datenschmutz.de

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